Wieder einmal stand sie an dieser Schwelle. Sollte sie es dieses Mal wagen? Die Stufen gingen steil nach unten. Und es sah gespenstisch dunkel aus. Das bisschen Licht, was da flackerte, ließ nur Schemen erahnen.
Chili trug lediglich ein weißes langes Hemd. Kurz überlegte sie, ob sie eine Strickjacke mitnehmen solle, aber die Luft die ihr entgegen blies war angenehm lau. Während sie noch überlegte, ob sie diese Schwelle übertreten solle, wurde der Sog nach unten zu gehen sehr stark. Schon fast penetrant. Diese Überlegung war ihr nun abgenommen worden. Sie setzte einen Schritt vor den anderen. Folgte den Stufen nach unten. Hohe Stufen. Es kostete sie Kraft, das Gleichgewicht zu halten. Sie zählte die Stufen beim Abstieg mit. Nach der dreißigsten Stufe kam ein kleiner Absatz, auf dem sie kurz verweilte. Sie atmete tief durch. Der Abstieg war anstrengend. Die Luft war frisch und klar, obwohl es in die Tiefe ging. Ihr war etwas warm geworden. Sie strich ihre langen Locken aus dem Gesicht und leckte die Schweißperlen von der Oberlippe. Vielleicht hätte sie Wasser mitnehmen sollen.
Von dem Plateau gingen zwei Eingänge weg, die jedoch sofort wieder endeten. Die Stufen, die sie jetzt zu gehen hatte, waren etwas weniger hoch, aber es wurde steiler. Chili tastete die Seitenwände ab und fand ein Stahlseil, an dem sie sich festhalten konnte. Die Wände fühlten sich wie Fels an und waren feucht. Wo war sie hier eigentlich? Was wollte sie hier? Oder besser: Was sollte sie hier?
Der Boden unter ihren Füßen war glatt, aber griffig. Sie tastete sich barfuss vorwärts. Mit jedem Schritt in die Tiefe überkam sie immer mehr Ruhe. Die Stille hatte etwas Heimeliges. Weit entfernt konnte sie eine Melodie spielen hören.
Plötzlich hörten die Stufen auf und Chili stand auf einem Felsplateau. Das Plateau war ein Überhang, der gut 200 Meter lang und 50 Meter breit war. Vorsichtig trat Chili nach Vorne und blickte nach unten. Ein Stück ging es noch nach unten, das Ende jedoch war nur schwer zu erahnen. Ein glitzern konnte sie sehen. Ein Licht?
Die Ruhe hüllte sie ein, wie in eine wattige Umarmung. Es war still, bis auf diese leise Melodie in der Ferne. Die Entfernung schien sich nicht verändert zu haben, da es weder lauter noch leiser geworden war. Merkwürdig.
Die junge Frau sah sich um und suchte nach den Stufen, die sie weiter nach unten führen sollten. Es gab keine. Erschöpft setzte sie sich an den Fels, lehnte sich an und schloss die Augen.
Durch die Anstrengung war sie gut erhitzt und durch ihr dünnes Hemd fühlte sie die Kühle des Felsens. Anfangs fühlte es sich gut an, dann wurde es fast eisig. Erschrocken riss sie die Augen auf. Alles war dunkel. Der Schein, der sie die ganze Zeit begleitet hatte war verschwunden. Sie fror. Ihr war eiskalt und sie war unbeweglich. Was war los? Ein höhnisches Gelächter war um sie herum. „Du bist jetzt mein!“ sagte diese Stimme, die von überall her zu kommen schien. Ihr Blut schien gefroren zu sein und ihr Herz schlug einen sehr langsamen Rhythmus. Fast schon tot.
Ganz leise wisperte eine andere Stimme in ihr: „Höre auf die Melodie. Das ist dein Leben“. Diese Melodie, der Gedanke an die Melodie war so schwammig. So schwer zu erinnern. „Du musst!“ wisperte die Stimme. „Du musst!“ Mit Gewalt klammerte sich Chili an diese so ferne Erinnerung, an diese Melodie. Langsam war die Melodie wieder fühlbar. Es war ein feines Band. Durch ihren Willen wurde es stärker und die Melodie besser hörbar. Sie konnte ihren Herzschlag wieder wahrnehmen. Noch abgehackt, aber es wurde stabiler und vor allem wärmer. So langsam konnte sie sich wieder bewegen.
Als sie die Augen aufschlug war die Umgebung eine andere. Sie war unten angekommen. An einem See. Es glitzerte. Das war wohl das Licht gewesen, welches sie vom Plateau aus gesehen hatte.
Chili stand unter Schmerzen auf. Sie sah an sich herunter. Das Kleid hing in Fetzen herab und ihre Haut hatte grobe Abschürfungen. Welchen Kampf hatte sie da ausgefochten?
Ihr Lebenswille hatte gesiegt. Zum Sterben war es noch zu früh.
Die Frau zog das, was vom Kleid übrig war aus und ging auf das Wasser zu. Das Wasser war angenehm warm. Sie begrüßte diesen sanften Schmerz, der durch das Wasser ihre Wunden reinigte. Dann überlies sie sich dem See. Auf dem Rücken liegend wurde sie von der Strömung aufgenommen und trieb auf das Licht zu. Sanft wurde sie vom Mondlicht begrüßt. Es war Vollmond.
©UMW
Zauberschön erzählt, liebe Ulrike,
hat mich erinnert an die Flucht von Simon aus der Engelsburg im ersten Band der großartigen Schwerter-Trilogie von Tad Williams…
einer fantastisch geschriebenen Saga, die ich sehr schätze!
Liebe Sonntagsgrüße vom Lu
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Dankeschön lieber Lu,
deine Schwerter-Trilogie kenne ich nicht. Insofern bin ich sehr überrascht. Werde sehen, welche Abenteuer Chili noch erleben darf.
Wundervolle Sonntagsgrüße
von Ulrike
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Da bin ich auch schon mords gespannt, liebe Ulrike 🙂
Die Trilogie vom Tad Williams ist im übrigen seeeeehr lesenswert!
Dir noch einen schönen Abend,
herzlich, Lu
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Tja… Dann sollte ich mir diese Trilogie einmal holen 🙂 Bin dankbar für gute Bücher 😉
Einen schönen entspannten Sonntagabend wünsche ich dir!
Herzlichst Ulrike
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Es sind im Deutschen vier dicke Bände…ich habe mir damals einfach mal nur den Drachenbeinthron für zehn Euro gekauft und angefangen zu lesen…
konnte nicht aufhören bis ich mit dem vierten Band durch war,
total faszinierend geschrieben!!
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Eine schöne Parabel über die Sehnsucht und den inneren Kampf zwischen der Melodie des Lebens und der Stimme des Todes.
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