Berechnend (I)

Ein herrlicher Frühlingstag. Die Sonne stand hoch am Himmel und lockte alle, die Zeit hatten, aus den Häusern. Seit wenigen Tagen waren die Brunnen der Stadt abgedeckt und ihre Fontänen sprühten in den Himmel. Junge Frauen in ihren kurzen Röcken hatten es sich am Brunnenrand bequem gemacht und lachten während sie ihr erstes Eis schleckten.

Bruno kam aus seinem Büro, setzte sich seine Sonnenbrille auf die Nase und lies seinen Blick über die Piazza wandern. Mit seinen sechzig Jahren sah er richtig gut aus. Seine Haare waren noch tief schwarz, mit wenigen grauen Strähnen, die seine Attraktivität verstärkten und einem gut durchtrainierten Körper. Seine Attraktivität wurde durch sein Porsche-Cabrio noch unterstrichen. Er strich kurz liebevoll über sein neues Automobil, bevor er seinen Weg zur Piazza aufnahm. In Gedanken war er bei seiner Frau, die ihn heute wieder einmal bis aufs Blut gereizt hatte. So konnte das nicht weiter gehen. Immer diese eifersüchtigen Sticheleien! Gut, sie hatte Recht. Vielleicht trieb er es ein bisschen zu heftig mit den vielen jungen Frauen. Sie liebten ihn. Vielleicht mehr sein Geld. Aber es war ihm egal. Er hatte viel Sex, guten Sex und vor allem äußerst vielfältigen Sex. Seine Frau bot ihm das schon lange nicht mehr. Und Sex war nun mal sein Elixier!

Während Sabrina aus der Hahnen-Apotheke heraustrat, las sie sich den Beipackzettel ihres Medikamentes durch. Sie blieb kurz im Schatten stehen und las die Beschreibung komplett. Diese ganzen Nebenwirkungen! Der Arzt hatte es ihr jedoch dringlich ans Herz gelegt, dass sie für die nächsten drei Monate diese Chemiekeule schlucken sollte. Nur so könne sich ihr Gesamtzustand wesentlich verbessern. Ihre Operation lag bereits ein halbes Jahr zurück, aber sie fühlte sich noch immer geschwächt. Sie wollte, dass sich das änderte. Wo blieb dabei die Lebensqualität? Also würde sie den Rat des Arztes befolgen und dieses pharmazeutische Produkt zu sich nehmen. Für einen gesunden Menschen konnten diese Tabletten den Tod bedeuten, für sie bedeutete es zu leben. Sabrina nahm ihre Sonnenbrille vom Kopf, die sie sich zuvor in die langen nussfarbenen Haare geschoben hatte, und setzte sich diese auf. Heute blendete die Sonne besonders, zudem war es angenehm warm für diesen Märztag. Sie wollte den Tag in einem Café noch etwas in der Sonne genießen. Für den Stadttag hatte sie sich besonders schick gemacht. Am Morgen hatte sie sich für das Figur betonende Kleid in rosé, einen oliv farbigen Blazer und die passenden zweifarbigen Pumps entschieden. Mit diesem Outfit zog sie sämtliche Blicke auf sich.

Sie lief über den Platz zum Café. Im Halbschatten erspähte sie noch einen kleinen Tisch, den sie direkt ansteuerte. Erschöpft setzte sie sich. Im selben Moment hörte sie eine Stimme sagen: „Oh, jetzt sind sie mir zuvor gekommen.“ Sabrina sah verwirrt hoch und erblickte einen sehr attraktiven älteren Herrn. Verlegen lächelte sie. „Es gibt ja zwei Stühle. Wenn sie möchten, setzen sie sich gerne dazu.“ „Das ist sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.“ Er stellte sich mit Bruno vor und setzte sich. Sabrina nickte und nannte im Gegenzug ihren Namen.

Es war ein angenehmer und vor allem unterhaltsamer Nachmittag. Sie hatten sich über Gott und die Welt ausgetauscht. Es war ein zartes Band geknüpft. So langsam war es für Sabrina an der Zeit nach Hause zu fahren. Sie wollte mit dem nächsten Zug los. Bruno jedoch wollte den Abschied noch etwas hinaus zögern. Diese Frau faszinierte ihn. „Wohin musst du denn? Ich würde dich gerne fahren“, bot er an. „Na ja. Es ist schon eine Stunde Autofahrt. Willst du dir das wirklich antun?“ fragte sie. „Wir könnten uns dabei unterhalten und noch besser kennenlernen. Ich fahre gerne Auto“, antwortete er ihr. Sie willigte ein, er bezahlte und gab der Bedienung ein großzügiges Trinkgeld. Bruno brachte Sabrina nach Hause und küsste sie zum Abschied. Er wollte sie wiedersehen und deshalb nichts überstürzen. Sie hatte diesen hungrigen Blick, der ihm Aufregendes versprach. Das wollte er kennenlernen. Von seinem übrigen Beuteschema unterschied sie sich sehr stark, da sie bereits Ende Vierzig war, eine kurvigere Figur und Lebenserfahrung hatte.

Es entwickelte sich tatsächlich eine Liebesbeziehung. Bruno war stolz auf sich, sein Kennerblick hatte ihn nicht enttäuscht. Inzwischen war seit ihrem Kennenlernen ein Jahr vergangen. Sabrina hatte von ihrer Krankheit erzählt, deshalb ging es nur langsam, aber stetig voran. Mit Sabrina erlebte er die Liebe neu. Sie war hungrig auf Sex und so liebten sie sich durch das ganze Repertoire und Neues wurde ausprobiert. Mit dieser Frau brauchte er diese jungen Dinger nicht mehr, seine Frau auch nicht. Scheidung wollte er nicht. Das würde zu teuer werden. Seine Ehe war schon lange kaputt, seine Frau forderte nur und wollte ihn am Boden sehen. Den Gefallen wollte er ihr nicht tun. Er brauchte eine Lösung.

Sabrina war gerade dabei in ihrer Wohnung Ordnung zu machen. Es war Zeit sich von Altem zu trennen. Bei den vielen Medikamenten in Bad hatte sie angefangen. Diese brauchte sie endlich nicht mehr. Bis auf wenige Einschränkungen war sie wieder ganz „die Alte“, voll sprühender Lebenslust. Sie hielt gerade die Schachtel Tabletten in Händen, die ihr Arzt am Kennenlerntag mit Bruno verschrieben hatte. „Das war ein Tag damals“, dachte sie und lächelte vor sich hin. In dem Moment betrat Bruno das Haus über die Terrasse. Mit einem langen Kuss begrüßte er sie, sah dann die Schachtel in ihrer Hand und fragte besorgt: „Was ist mit diesen Tabletten? Geht es dir schlecht?“ Sie schüttelte den Kopf und lächelnd sagte sie: „Glücklicherweise nicht. Ich räume gerade aus und werde die ganzen Medikamente bei der Apotheke zum Entsorgen abgeben.“ Erleichtert atmete er auf. „Komm, lass uns auf der Terrasse einen Kaffee trinken“, sagte sie und ging in die Küche. Bruno nahm sich einen Blisterstreifen aus der Packung und schob diesen in sein Jackett während er sich nachdenklich in die Sonne setzte. Heute Abend wollte er in die Stadt fahren.

©UMW


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