Berechnend (Teil III)

Bis ein Krankenwagen aus der nahen Kreisstadt eingetroffen war vergingen zwanzig Minuten. Karen war zwischenzeitlich ins Koma gefallen. Zwei Sanitäter und ein Arzt betraten die Wohnung und fragten: „Wohin müssen wir?“ Bruno brachte die Mannschaft ins Wohnzimmer und sagte dabei, dass er im Nebenzimmer war, als es krachte. Er sei schnell herüber gelaufen und habe sie nur stöhnend vorgefunden und direkt den Notarzt gerufen. Der Arzt verschaffte sich einen kurzen Überblick, sah den ausgelaufenen Prosecco und die Packung Tabletten. Er nahm die Schachtel an sich und steckte diese ein. Bruno sah es und sagte: „Das sind Blutdruck senkende Tabletten.“ „Ja, ich kenne diese“, erwiderte der Arzt. Mit einem Blick auf die Frau sagte er: „Es steht knapp. Wir müssen uns beeilen.“ Während die Sanitäter die Frau auf die Krankentrage legten fragte der Arzt, ob Bruno bei ihnen mitfahren wolle. Dieser verneinte und sagte, dass er mit dem eigenen Auto folgen wolle. Die Sanitäter rannten im Laufschritt aus dem Haus. Kurz darauf hörte Bruno das Zuschlagen der Fahrzeugtüre und einen Motor aufheulen. Er schnappte Wohnungs- und Autoschlüssel, rannte nach draußen und startete sein Fahrzeug. Gerade noch rechtzeitig um den mit Blaulicht und Sirene losfahrenden Krankenwagen nachzukommen.

Der Arzt hatte seine Patientin zwischenzeitlich im Kreiskrankenhaus als Notfall angekündigt. Dabei gab er an, dass es sich wahrscheinlich um Tablettenvergiftung durch Alkohol handle. Das OP-Personal und die Krankenschwestern standen bereit als der Wagen einfuhr. Mit schnellen Handgriffen wurde Karen in den OP gerollt. „Magen auspumpen und Vitalzeichen prüfen!“ ordnete der Arzt an. Während sich Ärzte und Schwestern um Karen kümmerten saß Bruno draußen und konnte noch gar nicht fassen, was passiert war. Nach einer längeren Zeit kam der Arzt zu ihm: „Herr Mischmann?“ Bruno nickte. „Also, ihre Frau liegt im Koma. Wir wissen nicht, ob sie es überleben wird. So ganz verstehen wir es nicht. Wenn sie die Blutdrucksenker eingenommen hat, dann hätte sie keinen Infarkt bekommen dürfen. Auch nicht mit Alkohol. Wir werden den Mageninhalt noch prüfen. Vielleicht hat sie noch etwas zu sich genommen. Gehen sie nach Hause. Wir rufen sie an, wenn wir mehr wissen. Hier können sie momentan nichts tun. Sie liegt auf der Intensivstation.“ Der Arzt drehte sich zum Gehen um, dann fragte er: „Sind Sie in Ordnung? Können Sie fahren?“ „Ja. Ja. Es geht. Danke“, antwortete Bruno. Bruno fuhr nach Hause und räumte so gut es ging im Wohnzimmer auf, ging dann ins Schlafzimmer und fiel erschöpft in sein Bett.

Am nächsten Morgen bekam er einen Anruf vom Krankenhaus. Eine Krankenhausärztin war am Apparat und fragte, ob sie mit Herrn Mischmann sprechen könne. Bruno gab zu verstehen, dass er es selbst sei. Die Ärztin stellte sich als die Bereitschaftsärztin von der Nacht vor und fing dann stotternd an: „Also, Herr Mischmann… Ihre Frau… Also, Ihre Frau… Heute Nacht, nein heute Morgen. Sie hatte noch einen Infarkt und ist dann verstorben. Können Sie bitte ins Krankenhaus kommen? Wir haben inzwischen den Befund. Kommen Sie bald. Danke.“ Bevor Bruno irgendetwas antworten konnte, war schon aufgelegt. Er duschte kurz und machte sich frisch. Dann fuhr er ins Kreiskrankenhaus. Die Ärztin wartete bereits auf ihn. „Schön, dass Sie so schnell gekommen sind. Danke“, begrüßte sie ihn. „Sagen Sie, Herr Mischmann. Nimmt bei Ihnen Jemand Miraculix?“ Bruno verneinte. „Für was ist das Mittel?“ wollte er wissen. Die Ärztin sagte ihm hierzu: „Dieses Mittel wird verschrieben, wenn der Patient unter Kräfteverlust leidet und Dauerdepressiv ist. Meist nach schweren Operationen.“ Bruno verneinte und sagte, dass dies nicht zuträfe. „Der Notarzt hat ja auch die Verpackung mit den Tabletten mitgenommen, die auf dem Boden lagen“, teilte er noch mit. „Das ist richtig“, erwiderte die Ärztin. „Aber… Wie soll ich sagen. In der Packung waren aber nicht die Blutdrucksenker drin sondern die Miraculix, die eine gegenteilige Wirkung haben. Sie hat die falschen Medikamente eingenommen. Es steht zu befürchten, dass der Hersteller bei dieser Charge einen Fehler gemacht hat. Wir werden das jedoch noch prüfen lassen. Es kann sein, dass die Polizei hierzu noch Fragen hat.“ Bruno schüttelte den Kopf. „Kann so etwas vorkommen? Das ist ja furchtbar“, sagte er und raufte sich seine Haare.

Bruno hatte die Hinterlassenschaft seiner Frau aus dem Krankenhaus mitgenommen und beim Beerdigungsinstitut angerufen. Die wollten sich um alles Weitere kümmern. Am Nachmittag erhielt Bruno einen Anruf der Polizei, die sich kurz ankündigten. Keine zehn Minuten später waren sie tatsächlich schon bei seinem Haus. „Entschuldigen Sie bitte die Störung“, wurde er begrüßt. „Aber wir müssen zu dem Vorfall mit Ihrer Frau ermitteln. Es sind nur wenige Fragen. Dürfen wir?“ Bruno nickte und bat die Beamten ins Haus. Er beantwortete alle Fragen und gab auch ehrlich zu, dass er mit seiner Frau häufig Streitereien hatte. „Sie wissen ja, wie das ist, wenn man so lange verheiratet ist“, gab er zu verstehen. Die Polizisten sahen ihn durchdringend an. In ihren Augen saß vor ihnen ein gebrochener Mann, der trauerte. Die Beamten verabschiedeten sich mit den Worten: „Gut. Danke. Wir melden uns wieder. Unser Beileid.“

Am Abend rief er bei Sabrina an und erzählte ihr von den Vorkommnissen. Er wollte sich nach der Beerdigung wieder melden, bis dahin bräuchte er Zeit für die Vorbereitung der Beerdigung, verschiedene Aufräumaktionen und um mit dem Schicksalsschlag fertig zu werden.

Nach einer Woche war die Beerdigung, die in aller Stille statt fand. Von der Staatsanwaltschaft bekam er die Nachricht, dass das Pharmaunternehmen belangt wird und das Verfahren damit eingestellt ist.

Noch einmal meldete sich Bruno bei Sabrina und beendete die Liaison mit der Begründung, dass er diese nicht mehr weiterführen könne.

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Ratlosigkeit

Ein aufgelöster Anruf meiner Freundin Betti schon am Morgen. Dauerhafte Streitereien mit ihrem Ex, die zermürben – und das schon seit zwei Jahren. Brief von seiner Anwältin mit Klage, die sich jedoch nicht halten wird, da es für alles stichfeste Beweise gibt. Wir treffen uns auf einen Kaffee bevor sie zu ihrem Anwalt fährt. Als sie geht, wirkt sie zwar gefasster, aber trotzdem noch unstet. Nach dem Termin in der Kanzlei ruft sie kurz an und teilt mir mit, dass die Klageschrift am Montag bearbeitet werden wird. Gegen Abend ruft sie erneut an, erreicht mich erst einmal nicht. Versucht es später noch mal; sie ist völlig „durch den Wind“ und erzählt mir neue Hiobsbotschaften. Ihr Exmann versuchte über ihre Freunde herauszubekommen wo sie sich aufhält bzw. was sie macht. (An dieser Stelle kurz: Er hat bereits eine neue Partnerin, mit der er Betti schon während der Ehe betrogen hatte und die auch mit ihm die Wohnung seinerzeit ausgeräumt hatte. Es ist also unbegreiflich, was er mit seinem Tun bezwecken will.) Eine ihrer Freundinnen hatte ihn da bereits über einen längeren Zeitraum mit Informationen versorgt. Somit war ihr nun klar, warum er immer bestens über ihre Unternehmungen Bescheid wusste. Die Freundschaft zu dieser angeblichen Freundin hat sie umgehend beendet. Es macht sie inzwischen ziemlich fertig, dass sie so langsam nicht mehr weiß, wem sie überhaupt noch trauen kann. Denn es war nicht die erste Person, die gegen sie intrigiert hatte. Ein Leben in Rückzug kann doch nicht die Lösung sein!

Meinen Abend hatte ich bei einer anderen Freundin verbracht und bin in der Nacht nach Hause gefahren, als das Telefon erneut klingelte. Betti… Sie wirkte sehr niedergeschlagen, war völlig am Ende. Sie wisse nicht, wie lange sie das noch durchhalte, sagte sie mir am Telefon. Und dass sie schlichtweg nicht mehr könne. Sie habe Abschiedsbriefe geschrieben. Ich solle dafür sorgen, dass jeder einzelne Abschiedsbrief bei seinem Empfänger ankommt. Sie würde diese Briefe in ihrem Auto hinterlegen. Sie könne nicht sagen, ob sie das Wochenende überleben würde.

Mein Hirn ratterte. Was tun? Kann ich sie beruhigen?

Zu diesem Zeitpunkt war sie auf dem Weg zu einer Veranstaltung, um sich abzulenken.  Als sie dort ankam beendeten wir das Gespräch. Ich rief direkt einen gemeinsamen Freund an, von dem ich wusste, dass er diese Veranstaltung ebenfalls besuchte. Ich erreichte ihn jedoch nicht.

Zu Hause angekommen hatte ich noch einige Mails zu beantworten und war also noch beschäftigt. Um Mitternacht klingelte das Telefon erneut und Betti teilte mir mit, dass sie es auf der Veranstaltung nicht ausgehalten habe und auf dem Heimweg sei. Wir telefonierten bis sie zu Hause war. Sie war völlig am Ende und wollte auch direkt schlafen. Für heute war es wohl überstanden. Mein Gefühl sagte mir, dass ich mir keine Sorgen machen bräuchte.

Aber was ist generell das „richtige“ Verhalten? Ich weiß, dass ich die Polizei anrufen könnte um den Verdacht auf Selbstmord anzuzeigen. Sie würde direkt in die Psychiatrie eingewiesen werden. Und glaubt mir, ich würde es tun, wenn ich tatsächlich das Gefühl hätte, dass Gefahr im Verzug ist.

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